Wien / Berlin © 2007
Diskurs mediumorfeus07
Todesmetaphern 3
Heiner Müller
Heiner Müller aus: Werke 1 Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1998
BLAUPAUSE 

Schlaflos im Fenster die Nacht
Fragt wozu das Ganze
Weil ich die Antwort nicht weiß
Das Dunkel lässt nicht mit sich reden
Geh ich zurück in den Schlaf
Der Morgen vielleicht weiß es anders 

1993  

SCHWARZFILM 

Das Sichtbare
Kann fotografiert werden
O PARADIES
DER BLINDHEIT
Was noch gehört wird
Ist Konserve
VERSTOPFT DEINE OHREN SOHN
Die Gefühle
Sind von gestern
Gedacht wird
Nichts Neues
Die Welt
Entzieht sich der Beschreibung
Alles Menschliche
Wird fremd 

1993  


LEERE ZEIT 

Meinen Schatten von gestern
Hat die Sonne verbrannt
In einem müden April 

Staub auf den Büchern 

In der Nacht
Gehen die Uhren schneller 
Kein Wind vom Meer 

Warten auf nichts  

1994 


Ohne Titel 

Beim Vorübergehen am Bücherregal
sehe ich den Titel
The green hills of Africa
Wie lange werden sie noch grün sein?
Was für ein Quatsch. Mein Reflex
auf den Titel ist weiter nichts als
die Sehnsucht nach einer Welt
oder Gegend, die nichts zu tun
hat mit dem, worüber zu schreiben
ich gezwungen bin, von wem?


Ohne Titel 

Mit der Wiederkehr der Farbe droht die
Auferstehung
ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST
NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST
TOT.
Der Tod ist ein Irrtum.  


DRAMA 

Die Toten warten auf der Gegenschräge
Manchmal halten sie eine Hand ins Licht
Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehn
In ihr gewohntes Dunkel das uns blendet 

1995  


Ohne Titel 

ICH KAUE KRANKENKOST DER TOD
Schmeckt durch
Nach der letzten
Endoskopie in den Augen der Ärzte
War mein Grab offen
Beinahe rührte mich
Die Trauer der Experten und beinahe
War ich stolz auf meinen unbesiegbaren Tumor
Einen Augenblick lang Fleisch
Von meinem Fleisch 

1995