Murakami, Haruki 
Afterdark @2004. btb 2007
DaS_Der Alltag. Bild Eberhard Kloke, 2008
23.57 Uhr.
Es ist dunkel im Zimmer. Aber unsere Augen gewöhnen sich allmählich daran. Im Bett schläft eine Frau.
Eine sehr schöne junge
Frau. Es ist Maris ältere Schwester Eri. Eri Asai. Niemand hat es uns gesagt, aber
aus irgendeinem Grund wissen wir, dass sie es
ist. Wie dunkles Wasser wallt ihr schwarzes Haar über das
Kissen.
Wir betrachten sie. Oder vielleicht sollten wir sagen, wir stehlen einen Blick auf sie. Unser Blick ist
zum Auge einer schweben
den Kamera geworden, mit der wir uns frei im Zimmer bewegen können. Momentan
befindet sie sich direkt über dem Bett und
nimmt Eris schlafendes Gesicht auf: ändert aber mit einer Art von
menschlichem Blinzeln in regelmäßigen Abständen ihren Win
kel. Eris wohlgeformte kleine Lippen sind
zusammengepresst.
Auf den ersten Blick kann man nicht erkennen, ob sie atmet. Doch bei genauerem
Hinsehen lässt sich hin und wieder eine
ganz sachte, kaum merkliche Bewegung an ihrer Kehle wahrnehmen.
Sie atmet. Ihr Kopf liegt auf dem Kissen, als schaue sie zur
Decke, doch in Wirklichkeit sieht sie nichts,
denn ihre Lider sind
fest geschlossen wie winterharte Knospen. Ihr Schlaf ist tief Vielleicht träumt sie nicht
einmal.
Während wir Eri Asai betrachten, gewinnen wir allmählich den Eindruck, irgendetwas an ihrem Schlaf
sei nicht normal. Er
ist zu rein und vollkommen. Kein Muskel in ihrem Gesicht, keine Wimper regt sich. Ihr
schlanker weißer Hals verharrt in tiefer
Stille wie ein Kunstwerk. Ihr kleines Kinn mit der wohlgeformten Spitze
erhebt sich in einem anmutigen Winkel. Auch wenn
ein Mensch noch so tief schläft, dringt er nie so weit ins
Reich
des Schlafes vor, gibt er sein Bewusstsein nie so völlig auf. (Seite 33)

Die Kamera gleitet langsam zurück und überträgt nun dengesamten Raum. Auf der Suche nach
Anhaltspunkten beginnt sie Einzelheiten ins Visier zu nehmen. Das Zimmer ist ohne Dekoration und lässt
keinerlei Schlüsse auf die Hobbys oder die Persönlichkeit seiner Bewohnerin zu. Sähe man nicht ganz genau
hin, merkte man wahrscheinlich nicht einmal, dass es sich um das Zimmer eines jungen Mädchens handelt.
(Seite 34)

Aus unserer Perspektive als schwebende Kamera nehmen wir die einzelnen Dinge im Zimmer lange und
genau in Augenschein. Wir sind unsichtbare, namenlose Eindringlinge. Wir sehen. Wir lauschen. Wir riechen.
Ohne indes physisch anwesend zu sein und Spuren zu hinterlassen. Wenn man so will, halten wir die gleichen
Regeln ein wie wahre Zeitreisende. Wir beobachten, ohne einzugreifen. Doch um die Wahrheit zu sagen, sind
die Informationen über Eri Asai, die wir diesem Zimmer entnehmen können, nicht gerade üppig. Es könnte der
Eindruck entstehen, dass sich ihre Persönlichkeit vorsätzlich verbirgt und sich geschickt den Blicken der
Betrachter entzieht.
(Seite 35)

Die Uhr zeigt 00:00 an. Wir vernehmen einen durchdringenden elektronischen Ton. Gleichzeitig beginnt der
Fernsehapparat leicht zu flimmern. Hat ihn jemand unbemerkt eingeschaltet? Oder war er von vorne herein so
programmiert? Nein, weder noch. Die Kamera fährt hinter die unsichtbare Rückseite des Geräts und offenbart,
dass der Stecker herausgezogen ist. Eigentlich müsste der Apparat tot sein und sein hartes, kaltes
mitternächtliches Schweigen wahren. Logischerweise, theoretisch. Aber er ist nicht tot.
(Seite 36)

04:25 Uhr. Im Zimmer von Eri Asai. Der Fernseher ist eingeschaltet. Eri steht im Schlafanzug vor dem
Bildschirm und sieht uns an. Die Haare fallen ihr in die Stirn, und sie wirft sie mit einer Kopfbewegung zurück.
Beide Handflächen auf das Glas gepresst, sagt sie etwas in unsere Richtung. Sie wirkt wie ein Mensch, der
sich in ein leeres Aquariumbecken verirrt hat und den Besuchern durch das dicke Glas hindurch seine
verzweifelte Lage erklärt. Aber ihre Stimme erreicht unsere Ohren nicht. Sie vermag die Luft auf unserer Seite
nicht in Schwingung zu versetzen. Wie es aussieht, sind Eris Sinne noch immer wie gelähmt. Sie scheint
keine Kraft in ihren Händen und Füßen zu haben. Vielleicht weil sie zu lange und zu tief geschlafen hat.
Dennoch bemüht sie sich, die geheimnisvolle Situation, in die sie geraten ist, zumindest ein wenig zu
verstehen. Trotz all ihrer Verwirrung und Unsicherheit wendet sie ihre ganze Kraft auf, um so etwas wie eine
Logik oder die Eigenschaften dieses Ortes zu erfassen und zu begreifen. Diesen Eindruck vermittelt sie durch
das Glas. Eri schreit nicht. Sie klagt und weint auch nicht. Dazu scheint sie bereits zu erschöpft zu sein. Ihre
Stimme würde uns ohnehin nicht erreichen, das weiß sie selbst. Sie versucht jetzt, das, was sie dort sieht
und wahrnimmt, in wenige, aber treffende, leicht verständliche Worte zu fassen, halb an uns und halb an sie
selbst gerichtet. Das ist natürlich keine leichte Aufgabe. Ihre Lippen bewegen sich nur schwerfällig und
stockend. Als spräche sie in einer fremden Sprache, sind all ihre Sätze kurz, und zwischen den einzelnen
Wörtern entstehen unregelmäßige Lücken, was die beabsichtigten Mitteilungen verzögert und abschwächt.
Obwohl wir angestrengt auf die andere Seite spähen, ist schon schwierig auszumachen, ob ihre Lippen Worte
formen oder nicht. Die Realität rinnt ihr durch die schlanken Finger wie der Sand durch eine Sanduhr.
Dort drüben ist die Zeit nicht auf ihrer Seite. Sie wird es bald müde, nach draußen zu sprechen, und
schließt resigniert den Mund. Über die Stille dort legt sich eine neue Stille. Dann hämmert Eri mit den Fäusten
leicht von innen gegen die Scheibe. Sie will ihr Möglichstes versuchen. Doch kein Geräusch dringt zu uns
vor. Anscheinend kann Eri durch das Glas auf unsere Seite hinübersehen. Wir können das aus der Bewegung
ihres Blicks erraten, den sie offenbar über die einzelnen Gegenstände in ihremZimmer (auf unserer Seite)
gleiten lässt, über den Schreibtisch, das Bett, die Regale. Dieses Zimmer ist ihr angestammter Platz. Hier
gehört sie eigentlich hin. Sie sollte friedlich in dem Bettschlafen, das hier steht. Aber sie befindet sich nun
hinter der transparenten Glaswand und kann nicht auf diese Seite zurück - Irgendetwas hat bewirkt oder
gewollt, dass sie im Schlaf in jenen Raum versetzt wurde und unbarmherzig dort gefangen gehalten wird.
Eris Augen haben die Farbe der Einsamkeit, wie graue Wolken, die sich auf der stillen Oberfläche eines Sees
spiegeln. Leider (müssen wir sagen) können wir nichts für Eri Asai tun. Wie gesagt, wir sind nur ein Blick. Wir
können in keiner Weise an ihrer Situation teilhaben. Aber - so überlegen wir - wer war eigentlich dieser
Mann ohne Gesicht? Was hat er mit Eri gemacht? Und wo ist er hingegangen? Ohne dass wir eine Antwort
erhalten hätten, verliert das Bild plötzlich seine Stabilität. Der Empfang wird heftig gestört, und Eri Asais
Umrisse vibrieren und verschwimmen. Sie spürt, dass etwas Seltsames mit ihrem Körper vorgeht, und schaut
sich um - zur Decke, auf den Fußboden und dann auf ihre zitternden Hände. Als ihr klar wird, dass die
Umrisse ihre Schärfe verlieren, wirkt Eris Gesicht plötzlich verstört. Was geschieht hier? Dschiiiii, der
bekannte übliche ohrenbetäubende Ton erhebt sich. Als begänne auf einem abgelegenen Hügel ein
starker Wind zu wehen. Die Grenze oder Schnittstelle zwischen beiden Welten gerät heftig ins Wanken.
Davon werden auch die Konturen von Eris Existenz beschädigt, ihre Person beginnt zu zerbröseln.
(
Seite 183 -185)

05:09 Uhr. Eri Asais Zimmer. Unversehens ist Eri Asai wieder auf dieser Seite. Sie ist wieder in ihrem Zimmer
und schläft in ihrem Bett. Das Gesicht zur Decke gewandt, liegt sie da und rührt sich nicht. Nicht einmal ihr
Atem ist zu hören. Es ist die gleiche Szene wie die, als wir das erste Mal ins Zimmer sahen. Drückende Stille,
augenscheinlich tiefer Schlaf. Es ist, als treibe Eri mit dem Gesicht nach oben auf einer spiegelglatten,
gedachten Wasserfläche ohne jede Welle. Im Zimmer gibt es nicht die geringste Unordnung. Der Fernsehap-
parat ist kalt und erloschen, auf die Rückseite des Mondes zurückgekehrt. Aber wie ist sie aus jenem
rätselhaften Raum entkommen? Haben die Türen sich geöffnet? Auf diese Frage weiß niemand eine Antwort.
Dieses Fragezeichen ohne Antwort versinkt mit der letzten Dunkelheit der Nacht in der absoluten Stille. Wir
können die Tatsache, dass Eri Asai in ihr Zimmer und in ihr Bett zurückgekehrt ist, kaum fa-sen. Soweit wir
sehen, ist ihr die Heimkehr auf unsere Seite ohne Schwierigkeiten und ohne äußere Beschädigung gelungen.
Gewiss konnte sie im letzten Augenblick durch eine Tür nach draußen entkommen. Oder sie hat einen
anderen Ausgang gefunden. Jedenfalls scheint die Reihe der seltsamen Vorgänge, die während der Nacht in
diesem Zimmer stattgefunden haben, ganz und gar beendet zu sein. Offenbar hat sich der Kreis geschlossen,
das Außergewöhnliche ist spurenlos beseitigt, ein Mantel hat sich über das Chaos gelegt, und alles ist wieder
in seinen ursprünglichen Zustand zurückgekehrt. Um uns her reichen sich Ursache und Wirkung die Hand,
Synthese und Auflösung befinden sich im Gleichgewicht. Schließlich hat sich alles an einem unerreichbaren
Ort, der einer tiefen Kluft gleicht, abgespielt. In der Zeit zwischen Mitternacht und den ersten hellen Streifen
am Himmel tut sich die geheime, dunkle Pforte dieses Ortes auf, an dem unser rationales Denken außer Kraft
gesetzt ist. Niemand kann voraussehen, wann und Wo sein Abgrund einen Me-schen verschlingen und wann
und Wo er ihn wieder ausspucken wird. Eri liegt jetzt wieder voll Anmut in ihrem Bett und schläft, als wäre
nichts gewesen. Wie ein eleganter Fächer breitet ihr schwarzes Haar stumme Bedeutung über das Kissen.
Es ist zu spüren, dass der Morgen naht. Die Zeit der tiefsten nächtlichen Dunkelheit ist überschritten. Aber ist
es wirklich So? (
Seite 210 -211)
DaS_Der Palast. Bild ekmw 2008