Kubin, Alfred Die andere Seite . Ein phantastischer Roman mit 52 Zeichnungen.
Reprint nach der Erstausgabe(1909). edition spangenberg. München 1990 Taschenbuch
DaS_Im Bann. Bild Lothar Zimmer, 2007
Ich blieb stehen – jetzt konnte ich stehen bleiben! Da, da! - das Gesicht! – und schon bedeckten sich meine
Schläfen mit kaltem Schweiß. In ein schleierhaftes silbergraues Gewand gehüllt, stand Patera aufrecht da -
stand schlafend da. Ein unbezähmbares Grauen empfand ich vor ihm. In den tiefen grünlichen Schatten seiner
Augen lag übermenschliches Leiden, und dann fiel mir auf, daß an einer seiner großen, wohlgeformten Hände
das Nagelglied des Daumens fehlte. Ich erinnerte mich blitzartig der im Traumreich geborenen Kinder. Wieder
hörte ich das Flüstern wie beim ersten Besuch."Ich habe dich gerufen", - klang es wie aus der Ferne. Es kam
dieses Mal zu keinem klaren Mienenspiel. Die Muskeln schwollen, rollten und zogen sich zusammen. Aber
alles blieb gestaltlos, die Züge wurden schlaff, nur die Lippen zuckten und spielten gräßlich indem sonst
starren Antlitz. Und dann hub es wieder an, ganz leise, wie durch einen Schleier gedämpft. Zuerst hörte ich
nur ein Wispern, sinnlos, unzusammenhängend. Dann erst begriff und verstandich: "Hörst du die Toten
singen, die lichtgrünen Toten? Sie zerfallen in ihren Gräbern schmerzlos und leicht; greifst du durch ihre
Leiber, so berührst du nur Brocken, und die Zähne, sie lösen sich leicht. Wo ist das Leben, das sie bewegte,
wo ist die Kraft? Hörst du die Toten singen, die licht-grünen Toten?" Der scharfe Hauch Pateras drang mir in
die Nase - ich fühlte mich schwach werden. Da setzte sich der Herr auf sein erhöhtes Ruhebett und warf
seinen Mantel ab - nun saß er aufgerichtet mit entblößtem Oberkörper, die langen Locken fielen ihm auf die
Schultern, ich mußte seine breiten, edlen Formen bewundern. Dieser schimmernd weiße Leib glich einer
Statue - und ich faßte meine letzte Kraft zusammen in die Frage: "Patera, warum läßt du das alles
geschehen?" - Es kam lange keine Antwort. Auf einmal rief er mit metallisch tönender Baßstimme:
"Ich bin müde!" Ich fuhr erschrocken zusammen, im nächsten Moment starrte ich in die glanzlosen Augen
- ich war im Bann. Seine Augen glichen zwei leeren Spiegeln, welche die Unendlichkeit auffingen. Mir kam der
Gedanke, daß Patera gar nicht lebe, - wenn Tote schauen könnten, das wären ihre Blicke. Es war ein Befehl
zum Sprechen in mir. Aber ich vermochte nur zu stammeln, ich lallte und war selbst erstaunt, wie es klang.
Wie aus Urzeiten kam diese Frage her, vor Billionen von Jahren mußten diese Worte gesprochen worden
sein, und jetzt erst brachte ich sie hervor, heute hörte man sie hier:"Patera, warum hast du nicht geholfen?"
Und langsam, leblos senkten sich seine Lider, wobei mir wieder leichter wurde. In sein Antlitz trat nun
unsägliche Milde, ein über die Maßen weicher, trauriger Zug bezauberte mich. Und wieder flüsterte es klar:
"Ich habe geholfen, ich werde auch dir helfen?" Es klang wie Musik, eine überaus süße Müdigkeit überkam
mich - ich beugte mein Haupt - die Augen fielen mir zu. Ein markerschütterndes Lachen, ein Lachen der Hölle
riß mich in die Höhe. ...Im grell strahlenden Raum stand an der Stelle Pateras der Amerikaner vor mir.
(
Kubin, Alfred Die andere Seite . Ein phantastischer Roman mit 52 Zeichnungen. Reprint nach der Erstausgabe(1909). edition spangenberg. München 1990 Taschenbuch, Seite 189 - 190)

DaS_Im Bann. Bild Lothar Zimmer, 2007