Silberpfeil & Bogen. Performance. 10. Juni 2006. LOISIUM Langenlois / Eisenbahnbrücke Stiefern. Bilder: permanentpix
SILBERPFEIL & BOGEN. Videosymphonie Kamptal.
Aus der Serie Granat. Virtuelle Gärten

Idee / Video / Bild: Markus Wintersberger
Idee / Sound: Alois Huber
Choreografie / Performance: Julia Mach
Gesang: Stephanie Lang


Projektkonzeption für das Festival der Gärten Kamptal 06 in Kooperation mit Viertelfestival Niederösterreich - Waldviertel 2006,
Loisium Weinmuseum Langenlois und Arche Noah Schiltern
1.
In seinem 1969 erstmals publizierten Text "Das Singen im Regen. Über die seltsamen Wirklichkeiten im amerikanischen
Filmmusical", definiert der Regisseur und Filmtheoretiker Alf Brustellin die klassischen Hollywood-Musicals als "Antiwelten"
und »Gegenwelten«, als Kino der "Lügen, Verschleierungen, Verleumdungen, Verdrehungen, Verschönerungen". Im Musical tanzt
das Kamera-Auge, mit allem, was ihm vor die Linse kommt. Nicht umsonst definiert daher Gilles Deleuze das Musical und den
Tanz als "Übergang von einer Welt zur anderen, [als] Eintritt in eine andere Welt: zugleich Einbruch und Erforschung."
Was haben wir dann von einer „tanzenden Brücke“ zu erwarten?

Das Motiv der Brücke als Übergangsort, als Ort des Übertritts, des Überschreitens (auch und gerade von Grenzen,
Beschränkungen, Traditionen, etc.) als Schwelle zu einer neuen, anderen Welt. Eigentlich ein Paradoxon: Transformationen und
Transgressionen entlang von bzw. auf Schienen. Die nach dem großen Hochwasser 2002 beinahe zerstörten Bauten sind ja vor
allem auch Zeugen und Denkmäler der technisch-industriellen Eroberung eines vormaligen Naturraums. Aber vielleicht liegt das
eigentliche Paradoxon darin, dass der "Naturraum" Kamptal erst durch dessen Industrialisierung als solcher wahrgenommen wurde.
Es also die Kamptalbahn brauchte um das Kamptal als "Naturraum" überhaupt erst zu naturalisieren. Wobei es bei
SILBERPFEIL & BOGEN um ein doppeltes Spiel der Dynamisierungen und Beschleunigungen von Wahrnehmungen geht.
Verkürzt gesagt geht es um bewegte Körper (einerseits solche, die sich im Tanz selber bewegen, andererseits solche, die mit
einem Zug von einem Ort zu einem anderen transportiert werden) und um bewegte also "laufende" Bilder.
Der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit der Anfänge der Kinematografie und der technisch-industriellen Aneignung des Raumes und
der Zeit ist dabei kein Zufall.

Kulminieren diese Diskurse der Moderne doch nicht zuletzt auch in den markanten Eisenbahnbrücken des Kamptales.
Um diese Brücken jedoch als Kreuzungspunkte dieser Diskurse wahrnehmen zu können, muss dieses Geflecht und Gewusel
aus mannigfaltigen Linien erst wieder sichtbar gemacht werden. Und zwar im buchstäblichen Sinne als Zusammentreffen von
Lichtwellen und Schallwellen. Schauplatz dieser gegenseitigen Durchquerungen wird die Bogenbrücke bei Stiefern sein,
wohin das Publikum mit einem Zug gebracht werden wird, der dann auf der Brücke hält. Was dann geschehen wird, kann hier nur
annähernd angedeutet werden. Auf alle Fälle beinhaltet es eine Aura des Geheimnisvollen, des Nicht-Vorhersehbaren,
des Abenteuerlichen. Geht es doch um die Transformation einer simplen Eisenbahnbrücke in eine „tanzende Brücke“.
In eine „Soundbrücke“ die mittels Stroboskop-Blitzen, Soundrhythmen und einer Tänzerin, die sich zwischen dem Licht,
den Schatten und den Klängen bewegt, auch den Zug und die sich darin befindlichen Gäste zum Schwingen und Tanzen bringen
soll!

Tanzen und Denken als Mittel zur gegenseitigen Wahrnehmungserweiterung. Dabei funkt die Lichtbrücke wie ein Satellit eine
Botschaft durch das mit stroposkopischen Lichtern illuminierte Kamp-Tal und kommuniziert so auch mit dem nächtlichen
Sternenhimmel, der gleichsam als Spiegel erscheint.
2.
Diese Spiegelmetapher bringt uns nun aber auch zu einem anderen Eckpfeiler von SILBERPFEIL & BOGEN. Denn natürlich geht
es bei dieser ganz speziellen Zugfahrt auch um die Reise durch und in ein Wurmloch hin zu einer Parallelwelt, die physikalisch
gesprochen ja auch nur einen kleinen Raumknick, einen Riss im Raum/Zeitkontinuum von uns entfernt ist. Aber – wie wir aus der
Literatur wissen – reichen manchmal auch Kaninchenlöcher oder der Gang durch einen Spiegel. Nicht umsonst soll es bei
SILBERPFEIL & BOGEN auch um den „Alice im Wunderland“-Blick gehen. Um einen Blick in eine andere Welt, die unsere
Vorstellungen von Selbstverständlichkeiten radikal in Frage stellt. Was bis zu Fragen der Identität geht. Etwa wenn Alice von
einem Löwen danach gefragt wird, ob sie nun „Pflanze, Tier oder Mineral“ sei und ein Einhorn darauf antwortet, dass Alice wohl
am ehesten ein „Fabelwesen“ sei. Aber das ist noch nicht alles!

Was Alice „Unsinn“ nennt wird als „so logisch wie das Einmaleins“ bezeichnet, wenn man am „gleichen Fleck bleiben“ will, muss
man „so schnell rennen“ wie man nur kann. Zudem gilt: „Um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so
schnell laufen!“ Aber das ist noch nicht alles in Sachen umgekehrte Logik. Alice wird im Wunderland hinter den Spiegeln nicht nur
mit räumlichen Problemen und Paradoxa konfrontiert, sondern auch mit solchen der Zeit. Am besten auf den Punkt gebracht mit
der berühmten Marmeladen-Regel die da lautet: „Gestern Marmelade und morgen Marmelade - aber niemals heute Marmelade."
Das Land hinter den Spiegeln ist also nicht einfach nur spiegelverkehrt, sondern elementar anders, d.h radikal different.
Genau darin liegen aber auch die Potentiale! Auch wenn Alice selber nicht alles versteht und kapiert – sie lernt dennoch relativ
schnell ihren eigenen intellektuellen Inutitionen zu folgen. Bzw. Tipps und komische Ratschläge quer im Sinne von
"un-logischrichtig" vulgo "richtig un-logisch" zu lesen. Etwa wenn sie vom Weißen Ritter erfährt: „Was tut es, wo mein Körper ist?"
- „Mein Geist denkt trotzdem weiter. Es ist sogar so, je verdrehter ich liege, desto mehr Erfindungen fallen mir ein."
Wie kommt Alice also im Garten des Wunderlandes hinter den Spiegeln von einem Ort zum anderen? Eben nicht indem sie
geradeaus rennt! Sie unternimmt solche Versuche zu Beginn zwar öfters, wird dabei jedoch immer wieder von einem merkwürdig
gekrümmten Weg, der für Alice „eher ein Korkenzieher als ein Weg“ ist zum Ausgangspunkt zurückgeführt.
Also kommt Alice zum Schluss: „Nun, dann muss ich es in der anderen Richtung versuchen.“
3.
Diese andere Richtung kennzeichnet aber auch prinzipiell die Logik von Lewis Carrolls Alice-Büchern! Auch wenn die Geschichten
immer wieder gerne als psychedelische und metaphysische Parabeln und Geheimcodes gelesen wurden, ging es dem
Mathematiker und Logiker Carroll doch vor allem auch darum, den menschlichen Geist mit unorthodoxem Futter, also das Hirn mit
Schmalz zu versorgen. Quantenphysik statt Zauberpilzen, aber dennoch die gemeinsamen Wurzeln von Mathematik und Magie,
als „Mathemagie“ nicht negierend.

Und so geht es bei SILBERPFEIL & BOGEN auch nicht um jenen „Stonehenge Effekt“, der in Form vorsintflutlicher Archaik
rückwärtsgewandte Anti-Utopien und das Phantsma einer einst besseren, harmonischeren und mit sich selbst und allen
Lebewesen im Einklang lebenden Märchenwelt daherimaginiert und als esoterischen Bauchladen herumpropagiert. Denn wirklich
eins mit der Natur können wir sowieso nur sein, wenn wir zuvor aufgehört haben zu leben. Also wenn die Würmer kommen,
oder wir zu Asche verbrannt wurden. Daher gilt es auch immer hinter all den Humbug zu schauen. Und ist das nicht eine der
zentralen Lehren des „Zauberers von Oz“, dem neben „Alice im Wunderland“ bzw. „Alice hinter den Spiegeln“ zweiten wichtigen
Buch für SILBERPFEIL & BOGEN?

Denn bekanntlich wird der „große und mächtige Oz“ am Schluss als Scharlatan entlarvt, der eine gigantische Laterna Magica-
Maschine bedient. Was ihn zwar zu einem schlechten Zauberer, aber zu einem umso größeren Illusions-Machinisten und auch
Traumproduzenten macht. Nicht umsonst gehört die Hollywoodverfilmung des „Zauberers von Oz“ mit Judy Garland zu den
schönsten Kinoträumen des klassischen Hollywood. Und was ist ein Zug anderes als eine Maschine?
Oder eine „Video-Symphonie“? Hans Blumenberg definierte die Begriffe „machina“, „machine“, „macchina“ in „historischen Texten“
einmal so: „Sein übergreifender Bedeutungsgehalt geht auf ein komplexes, zweckgerichtetes, aber in seiner Zweckmäßigkeit nicht
ohne weiteres durchsichtiges Gebilde, auch eine Veranstaltung dieser Art (zurück): ein listiges Manöver, ein betrügerischer Trick,
eine verblüffende Wirkung.“ So gesehen beinhaltet eine Maschine, egal ob zum Wünschen, Sehen, Hören, oder mit was auch
immer für einer Absicht zusammengebaut, stets auch solche Anteile die wir mit Jahrmarkt- und Kirtag-Attraktionen, mit
Spektakeln, mit Wunderkammern, mit Laterna Magica-Vorführungen, kurz: mit dem Sublimen, dem Geheimnisvollen, dem nicht in
unsere symbolische Ordnung Überführbaren in Verbindung bringen.

In diesem Sinne: Einsteigen, und es immer „in der anderen Richtung versuchen“.
Didi Neidhart, Juni 2006